Das Wirken des höheren Ich in der Biografie

Kürzlich war ich wieder einmal dabei, als die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse einer Waldorfschule ihre Jahresarbeiten vorstellten. Die Mädchen haben in der Aula ihre Kleider- und Taschenkreationen und stylische Bettwäsche gezeigt und dabei alle Arbeitsschritte erklärt. Die Jungs haben dem Publikum ihre selbstgebauten Fahrräder und Longboards vorgestellt und ihre neu erlernten Techniken beim Parcouring in der Turnhalle präsentiert. Ohne irgendeine Befangenheit angesichts traditioneller Rollenklischees bot sich mir ein Bild männlich-weiblicher Differenzierung: Die jungen Männer trainieren sich selbst und/oder bauen Geräte, um im weitesten Sinne die Welt zu erobern und die jungen Frauen schmücken sich und entdecken dabei die schönen Künste für sich. Rudolf Steiner beschreibt aus einer andern Sicht dieses Phänomen mit den folgenden Worten: „…Und in demselben Sinne, wie der Knabe sich selber ein Rätsel wird, etwas was er bestaunt, wird im Mädchen gerade in diesen Jahren die Außenwelt ein Rätsel. ….Man möchte sagen: dem Mädchen wird etwas von dem ganzen Kosmos, von dem Universum eingepflanzt, etwas früher; dem Knaben wird die Umgebung auf der Erde auf dem Umweg durch die Sprache eingepflanzt.“ (R. Steiner, 9.8.1922, GA 305). Man möchte hinzufügen –und  etwas später. Das ist die eine große Polarität, die sich in diesem Alter zeigt – in der Pubertät.

 

Die Mädchen gehen seelisch mehr nach innen, die Jungs mehr nach außen. Die Mädchen fühlen sich im Sozialen sicherer, die Jungs im Räumlichen, im Gegenständlichen. Umgekehrt ängstigt sich das Mädchen vor der Welt und der Junge vor dem Menschlichen, dem Sozialen. In dieser Polarisierung liegt der Urgrund der Sehnsucht, diese Polarisierung wieder aufzuheben. Die Frage nach dem Gegenüber, nach dem Du hat hier ihren Ausgangspunkt. So werden die Kinder, die immer soziale Wesen waren nun Jugendliche mit dem Wunsch nach individueller Begegnung, auch nach intimer Begegnung. Sie suchen, wie wir alle im weiteren Leben,  die Spaltung der Geschlechtlichkeit zu überbrücken. Um für das andere offen zu sein, müssen wir uns erst selbst finden und in uns gründen. Das macht oftmals die Dramatik der Begegnungen mit sich selbst und auch  mit einem Gegenüber in diesem Alter aus: das sich noch nicht haben, aber schon den Willen zum anderen kräftig zu spüren. Dabei entstehen kräftige Gefühlsbewegungen. Diese zu verstehen und nicht nur mit dem bekannten „Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt“ oberflächlich abzuwiegeln ist einen wichtige Aufgabe der Erwachsenen, im speziellen der Eltern. 

 

Die andere Polarität ist weniger offensichtlich, sie vollzieht sich im Stillen, in den Untergründen der Seele, die zur Persönlichkeit heranwächst. Sie zeigt sich nach und nach in der Eröffnung des wirklich Individuellen jedes einzelnen Menschen. Seine eigene Schicksalsmelodie beginnt ihm selbst bewusst zu werden. Seine Ideale, sein ideales Ich werden dem realen und selbstreflektierenden Ich anfänglich bewusst. Mit 14 Jahren, im 15. Lebensjahr, ist die Polarisierung in Mann und Frau und idealem und realem Ich in vollem Gange. Zumindest der Geburtsmoment ist vollzogen und nun gebärdet sich dieses Seelische und Individuelle genauso unbeholfen wie 14 Jahre vorher das Leibliche nach der physischen Geburt. Es bedarf  weiterhin der vorbildhaften Führung und Lenkung durch die Erwachsenen. Darin liegt ein wesentliches Thema auf Elternabenden und in der Beratung von Eltern mit dann nunmehr Jugendlichen. Wie können die Eltern Vorbilder sein? Wie setzen Mutter und Vater Grenzen, ohne Gewalt anzuwenden und dennoch eindeutig und ohne Selbstverleugnung? Wie können Eltern mit ihrem gereiften „Ich“ vorbildhaft auf den sich nun in drei Schritten (mit 14, mit 16 1/3 und 18 2/3) befreienden Astralleib der Jugendlichen wirken?

 

Der israelische Pädagoge Haim Omer eröffnet dafür ein neues pädagogisches Feld. Mit den Motiven des gewaltfreien Widerstandes hat er pädagogische Prinzipien und Instrumente entwickelt, die es ermöglichen, mit den Jugendlichen ein gleichwürdiges Verhältnis zu pflegen (siehe auch bei Jesper Juul: Dein kompetentes Kind – auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie und Jesper Juul: Grenzen, Nähe, Respekt“. Und zeitgleich stellt Haim Omer das Selbstverständnis der elterlichen Verantwortlichkeit für die Beziehung von Eltern und jugendlichen Kindern in das Zentrum der Beziehung! (Haim Omer: „Stärke statt Macht)

Der Jugendliche im 15. Lebensjahr ringt mit der Polarisierung in Männlich und Weiblich und der Urkraft die beide wieder vereinen möchte:  der Liebe zum Du, die sich in Erotik und dann auch in der Sexualität zeigt. Weiterhin ringt er mit der eigenen Polarisierung in sein tagesbewusstes, eher egoistisch -  weltlich orientiertes „Ich“ und seinem höheren, idealischen Anteilen seiner Persönlichkeit - seines „Iches“

 

Eine reduktionistisches  Menschenbild  nimmt davon nur die äußeren Attribute war: Männlich, Weiblich, Sexualität und Ideale, die sich mit der Realität  reiben.  Auf dieser Ebene der Betrachtung bleiben die meisten zeitgenössischen Betrachtungen zum 15. Lebensjahr stehen. Ihnen  liegt eine Sicht auf den Menschen zugrunde, die keinerlei Verwandlung beinhaltet. Sie behauptet, der Mensch sei prinzipiell ein sich geradlinig entwickelndes Wesen – von der Geburt bis zu seinem Tode. Vorher und nachher ist nichts, oder möglicherweise göttliches All-sein! Dagegen erkennt das Anthroposophische Menschenbild den Menschen als ein Wesen mit einer vorgeburtlichen Präexistenz und mit einer nachtodlichen Postexistenz. Erst damit werden viele Phänomene, die sich kaum oder gar nicht innerhalb der starren Grenzen der einmaligen - aber eben nicht einzigen - Biografie erklären lassen, verstehbar. Denn diese Entwicklungs-Zeiträume spiegeln sich im biografischen Leben des einzelnen Menschen.

 

Daraus ergibt sich, dass der polar gestaltete Mensch ein Geistig-Seelisches mitbringt und sich dieses zu verwirklichen, zu realisieren sucht im Leiblich-Physischen. Das Geistig-Seelische ist sich selbst verwandt, das Leiblich-Physische, das sich aus dem Erbstrom von Vater und Mutter und Äonen Vorfahren ergibt, folgt den Gesetzen der Vererbung. Rudolf Steiner beschreibt, wie sich allmählich dieses ideale Ich im Leib ein Werkzeug schafft und sich im realen Ich bewusst wird. In der Embryologie ist die Polarität sogar leiblich anschaubar. Zunächst inkarniert sich der höhere Anteil des Menschen in die Eihüllen und bildet dann aus der Peripherie, ins Zentrum hinein strahlend, den Embryo und Fötus. Mit der Geburt wird das »Zentrum« geboren und hoffentlich mit großer Freude begrüßt. Die Peripherie (Plazenta/Eihüllen) geht als Nachgeburt meistens unbewundert, nur auf Vollständigkeit von den Hebammen untersucht, ab. Diese Nachgeburt ist aber in der Zeit der Reifung im Mutterleib der Inkarnationsort des höheren Anteils des Menschen gewesen (Wolfgang Schad). Mit der Geburt zerreißt die urbildliche Einheit des Menschen in die schon erwähnte Polarität von idealem und realem Selbst. Das ideale Selbst wird zu einem Teil keine Erdenwirksamkeit mehr erhalten. Das Gefühl zu diesem Phänomen erwacht mit 14 Jahren – nämlich nicht ganz der oder die zu sein, die sich hier auf Erden im Spiegel (meist kritisch) beäugt und die Sehnsucht dieser oder diese Andere zu werden, die in diesem Alter ahnend erlebbar wird (siehe Wolfgang Schad: „Die verlorene Hälfte des Menschen“.

 

Diese Entwicklung ist in einen umfassenderen Entwicklungsbogen einbezogen, der sich in drei großen verleiblichenden »Einschlägen« dieses idealen, höheren Ichs im Laufe der ersten drei Jahrsiebte vollzieht: Im dritten Lebensjahr ereignet sich der »Einschlag« im Nerven-Sinnes-System des kindlichen Organismus. Das Kind wird sich das allererste Mal seiner Selbst bewusst und spricht von nun an von sich selbst als »Ich«.  Dieser Bewusstwerdungsschritt vollzieht sich im Denken.  Dem gehen die vorbereitenden ur-menschlichen Entwicklungsschritte des aufrechten Ganges (mit ca. einem Jahr) und des Sprechens (im 2. Lebensjahr) voran. Ab diesem ersten „Einschlag“ des höheren Ich verfügt der Mensch über die Möglichkeit der Selbstreflexion und  der individuellen Erinnerung.

Im zehnten Lebensjahr „schlägt“ das Ich im Rhythmischen System des Menschen ein. Dadurch erwacht das Gefühl zum Bewusstsein. Von nun an hat der Mensch die Möglichkeit zu einem individuellen Gefühlsleben. Steiner beschreibt diesen Krisenmoment in der menschlichen Entwicklung als den „Rubikon“. Beim Überschreiten des biografischen Rubikons verlässt das Kind das traumhafte Empfinden – er wird sich seiner eigenen Empfindungen und Gefühlen bewusst, die es vorher unhinterfragt einfach hatte. Die moderne Psychologie nennt dieses Phänomen Metakognition. 

Im sechzehnten Lebensjahr „schlägt“ dieses Ich im Stoffwechsel-Gliedmassenmenschen ein. Der Mensch hat von nun an die Möglichkeit, freie und selbstbestimmte Willenstaten zu vollbringen. Sein eigenes, nicht mehr familiär geprägtes Schicksal beginnt. Ausdruck für diesen willentragenden Anteil des Menschen, des Stoffwechsel-Gliedmassenmenschens,  sind seinen Hände und Füße. Mit den Händen vollbringen wir unsere Taten und die Füße tragen uns durch unseren Lebens-lauf – auf unser Ziel zu.

 

So wie sich Vorgeburtliches und Nachtodliches in der Biografie spiegeln, so spiegelt sich auch innerhalb eines Lebenslaufs das sich dynamisch verändernde Wesensgliedergefüge. Spiegelachse ist die Lebensmitte!

Das bedeutet auf der anderen Seite der Spiegelachse, in der zweiten Hälfte des Lebens: Diese verleiblichten Anteile des höheren Ich lösen sich langsam wieder aus dem leiblich-physischen Gebilde heraus: wir altern. Dieses Phänomen ist wohl jedem einsichtig – nicht aber, dass dies Ausdruck, der sich aus dem Leib zurückziehenden Individualität ist. Die Anteile des Individuellen, die nicht mehr leibgebunden sind, stehen dem Menschen von da ab als rein geistig-seelische Kraft zur Verfügung, wenn er diese ergreift und für sich und die Welt nutzbar machen kann.

 

Der gesamte Lebensbogen des Menschen bekommt seine Spannung durch das Phänomen der Spiegelung. Nicht nur, spiegeln sich die biografische Phänomene, sondern auch das wie, die Qualität spiegelt sich ebenfalls. Es ist also von prägender Wirkung für die 2. Hälfte des Lebens, unter welchen Bedingungen sich die höheren Anteile des Menschen in den leiblich-physischen Anteil eingelebt haben. Die Umstände des sich Beheimatens im 3., 9. und 16. Lebensjahr, bestimmen die Färbung und auch die Krankheitsdispositionen für die Zeiten  des sich wieder Lösens in der 2. Lebenshälfte.

 

Wo liegt die Spiegelachse, an der sich Inkarnation und Exkarnation einander ablösen und spiegeln? Dieser Punkt ist so individuell, wie er nur sein kann. Ihn zu entdecken, ist eine Fragestellung  z.B. in   der Seelsorge oder Biografiearbeit. Die verschiedenen Autoren auf diesem Gebiet  machen verschiedene Vorschläge für urbildliche Lebensläufe. So kann die Mitte des 7. Lebensjahrsiebtes die Spiegelachse sein in einem Alter von 31,5 Jahren oder aber auch mit 35 oder 42 Lebensjahren. 

Wenn wir die Spiegelachse auf das Alter von 35Jahren legen, dann  spiegelt sich das 15. Lebensjahr auf das 56. Lebensjahr (Matthias Wais: Biographiearbeit Lebensberatung).  Der Übergang vom 2. zum 3. Jahrsiebt auf den Übergang vom 8. zum 9. Jahrsiebt. Der Beginn der Fortpflanzungsfähigkeit spiegelt sich im Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit (Phänomen in der Gynäkologie: die Tochter bekommt Ihre Regelblutung (Menarche) regelmäßig, bei der Mutter lässt diese nach (Menopause). Die Entdeckung der Sexualität spiegelt sich in der Erfahrung der Älterwerdenden, dass diese weniger wichtig ist für das Selbsterleben. Das Interesse für das eigene Wohl spiegelt sich in einem Interesse für das Gemeinwohl. Schließlich als Thema des 3. Jahrsiebtes: Die Entdeckung der eigenen Ideale gipfelt in der Umsetzung der eigenen Ideale! Besonders an dieser Spiegelung ist die Vorbereitung auf das 57. Lebensjahr, in dem sich der 3. Mondknoten befindet. Der Mondknoten repräsentiert die Stellung von Sonne, Mond und Erde zur Zeit der Geburt. Seelisch-geistig stellt sich in den Mondknoten die Sinnfrage des Lebens. Diese kehrt rhythmisch wieder – nämlich alle 18 Jahre, 7 Monate und 9 Tage. So spiegelt sich im 3. Mondknoten,  das 14. Lebensjahr mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn des eigenen Lebens besonders ausgeprägt!

 

Entwicklung lässt sich so weder vom Ende noch vom Anfang her denken, sondern als ständige Metamorphose von Gewesenem und von zukünftig Antizipiertem. Ursache und Wirkung verbinden sich auf einer höheren Ebene als wechselseitige sich beeinflussende Bedingungen für Entwicklung.