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Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) zum Beschlussentwurf und der wissenschaftlichen Begründung für die Empfehlung der HPV-Impfung für Jungen im Alter von 9-14 Jahren

 

Die Arbeitsgruppe Impfen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) nimmt zur Beschlussfassung wie folgt Stellung: 

Die DEGAM unterstützt wissenschaftlich fundiertes Impfen und verantwortet mit den Hausärztinnen und Hausärzten die meisten durchgeführten Impfungen in Deutschland. Wir teilen ausdrücklich die Faszination der Vision, Krebserkrankungen durch eine geschlechtersolidarische Impfempfehlung verhindern zu können. 

 

Aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Evidenz für die Impfempfehlung und mangelnder Transparenz der vorgelegten Modellierung kann die DEGAM der Beschlussvorlage allerdings in diesem Fall nicht zustimmen. Wir haben die Sorge, dass bei einer unzureichend begründbaren Impfempfehlung das Vertrauen der Bevölkerung in öffentliche Impfempfehlungen Schaden nimmt. 

 

Als wesentliche Voraussetzung für das Erreichen des im Modelling berechneten Zusatznutzens wird eine Impfquote von 22,5 % benannt. Das Erreichen dieser angestrebten Impfquote von jedem vierten bis fünften Jungen wird nach unserer Einschätzung schwer erreichbar bis unmöglich sein. Dies ist begründet durch die mangelnde wissenschaftliche Evidenz und geringe Effekte bei den zu impfenden Jungen. Aber selbst wenn es gelänge die angenommene Impfquote zu erreichen, bleibt völlig unklar, ob das Ergebnis dieser Modellierung realistisch ist. 

 

Dies ist für die DEGAM nicht abschließend beurteilbar, solange nicht alle Annahmen, Alternativberechnungen und das Rechenmodell selbst zur Verfügung gestellt werden. Wir bitten um die Zuleitung der erbetenen Informationen. Unabhängig davon können wir bereits jetzt folgende Mängel der vorgelegten Modellierung erkennen, die zu einer relevanten Überschätzung des Impfnutzens und einem dramatischen Unterschätzen der Kosten je Qualy führen: Die Grundannahmen sind durchweg sehr großzügig hinsichtlich des zu erwartenden Impfnutzens. Patienten glauben nicht, dass wir Effekte vorhersagen können, die weder wir noch die geimpften Jungen erleben werden. Insofern ist die Berechnung des potentiellen Nutzens über 100 Jahre kritisch zu bewerten. 

 

Auch die angenommene, unverminderte Protektionsdauer der Impfung von 20 Jahren ist durch die Literatur so bislang nicht belegt. Uns sind keine Studien bekannt, die einen Zeitraum länger als 10 Jahre untersucht haben. Ganz entscheidend aber ist, dass für die Modellrechnung ein Impfnutzen für die Verhinderung auch von solchen malignen Zielerkrankungen einberechnet wurde, für die keiner der erhältlichen Impfstoffe zugelassen ist. Aus Tabelle 3 der vorgelegten Beschlussfassung in Zusammenschau mit Punkt 5 HPV-Impfstoffe (Seite 15) geht hervor, dass 70% der 4800 in der Tabelle genannten malignen Zieltumorerkrankungen nicht von den Impfstoffzulassungen (C01, C09, C10, Zungengrund, Tonsillen, Oropharnx) gedeckt sind. 

 

Es ist nicht erkennbar, wie sich die Modellierungsergebnisse verändern, wenn der außerhalb der Zulassungsindikation postulierte Impfnutzen wegfällt. Für die von der Zulassung gedeckten malignen Zielerkrankungen ist das vorhandene Evidenzlevel nach GRADE sehr niedrig bis maximal moderat. Allein für die Verhinderung von benignen Condylomata acuminata ist die Evidenzlage gut.1 Ob sich (die Eltern von) Jungen in großer Zahl von einer Impfung gegen diese benigne, gut behandelbare Erkrankung überzeugen lassen, ist sehr fraglich. 

 

Auch die vage Aussicht auf Schutz gegen die sehr seltenen von der Zulassung erfassten malignen Neoplasien überzeugt wenig. Dieser Mangel an Evidenz und Transparenz der Berechnung des Nutzens wird sich allein aus rechtlichen Gründen (vgl. § 630 e BGB2) bei einer Impfempfehlung zum jetzigen Zeitpunkt auch in den geplanten Informationsmaterialien wiederfinden müssen. Wir Impfärztinnen und - ärzte sind zu dieser vollständigen, rechtskonformen Aufklärung verpflichtet. Unter diesen Umständen ist es kaum zu erwarten, für Jungen immerhin die Hälfte der bei Mädchen bis heute erreichten Impfquote realisieren zu können.

 

Die Beschlussvorlage selbst benennt die hohen Kosten und Impfpreise als Problem aus gesundheitsökonomischer Sicht. Wenn aber ein wesentlicher Teil des prognostizierten Gesamtnutzens wegfällt, weil er gemäß Impfstoffzulassung nicht sicher genug zu erwarten ist, stehen die Kosten endgültig in keiner nachvollziehbaren Relation mehr zum gesellschaftlich erwartbaren Nutzen. 

 

Auch die zusätzliche Bindung personeller Ressourcen muss bei der Gesamtbetrachtung mit einkalkuliert werden. Das Argument der Geschlechtergerechtigkeit ist hingegen ein wichtiges Argument. Sich aus Geschlechtersolidarität für das andere Geschlecht impfen zu lassen, ist aus unserer Ansicht aber nur dann sinnvoll zu fordern, wenn das andere Geschlecht sich durch Impfung oder andere Maßnahmen nicht selbst ausreichend schützen kann oder auf epidemiologischer Ebene ein erheblicher Zusatznutzen zu erwarten ist. Das Risiko einer ernsthaften HPV-Erkrankung (nicht einer transienten Infektion) ist für Frauen bei einer eigenen Impfung und/ oder konsequentem Kondomgebrauch3 durch die zusätzliche Impfung von Jungen nicht mehr wesentlich minimierbar. 

 

Aus den vorgelegten Modellrechnungen ist vielmehr erkennbar, dass eine Steigerung der Impfquote für Mädchen den entscheidenden Einfluss auf die Verringerung der zulassungsrelevanten Erkrankungen (höhergradige CIN und Zervixkarzinom) und der dadurch vermeidbaren relevanten Komplikationen (z.B. Konisationen) hat. Hier muss die Strategie auf eine deutlichen Verbesserung der Durchimpfungsrate und rechtzeitigen Einsatz der Impfung bei Mädchen zielen. Dafür sollten die entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen vorrangig eingesetzt werden.

 

Aus allgemeinmedizinisch-hausärztlicher Sicht und grundsätzlichen gesundheitsökonomischen Überlegungen hält die DEGAM es deshalb für weitaus sinnvoller, vermehrte Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit der in Frage kommenden Bevölkerung zu betreiben. Die Mittel, die für eine Impfung von Jungen aufgewendet würden, wären aus unserer Sicht besser und effektiver in eine verstärkte Information der impfrelevanten Bevölkerung (Mädchen im Impfalter und deren Eltern/Sorgeberechtigten) investiert. 

Durch die Einführung und adäquate Honorierung einer Impfaufklärungsleistung, wie sie in manchen HzV-Verträgen bereits etabliert sind, kann auch auf ärztlicher Seite eine ergebnisoffene Diskussion von Impfindikation und -risiko sowie Alternativen zur Impfung mit Patienten gefördert werden. 

 

Dies ist zu begleiten durch verstärkte Motivation zum Kondomgebrauch, was nicht nur auf durch Impfung präventable Erkrankungen, sondern auf andere durch Geschlechtsverkehr übertragbare Infektionen deutlich bessere Effekte erwarten lässt: Equity bedeutet hier aus Sicht der DEGAM, dass Männer safer sex praktizieren und Frauen Kondomgebrauch entsprechend der Equity einfordern. Kondomgebrauch schützt darüber hinaus ja auch Männer vor einer HPV-Infektion mit einer NNT von 6 nach 3 Monaten Kondomgebrauch4. 

Da uns als Primärversorger auch die Prävention nicht impfpräventabler Erkrankungen zufällt, ist in der Allgemeinmedizin der Kondomgebrauch als Schutz vor HIV, HBV, HCV, Chlamydien, etc. die sinnvollste Maßnahme für Gender Equity bei sexuell übertragbaren Erkrankungen. Diese empfehlen wir insbesondere bei der Jugendgesundheitsuntersuchung. Da die Stiko gemäß § 20 Infektionsschutzgesetz auch „andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten“ 5 empfehlen kann, wünschen wir uns als DEGAM hier Unterstützung. 

 

Wir haben die Sorge, dass auf Bevölkerungsebene deutlich relevantere Impfempfehlungen beschädigt werden, wenn diese wissenschaftlich unzureichend begründbare Empfehlung jetzt verabschiedet wird. Schon 2009 wies die DEGAM auf den Zusammenhang hin, dass wissenschaftlich unzureichend begründete Impfempfehlungen die Impfmüdigkeit fördern6 . Sollte eine Empfehlung dennoch schon zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen werden, sollte zumindest zwingend eine Exitstrategie festgelegt werden, wenn die vorher überprüfbar festgelegten Ziele verfehlt werden. Nur so kann zuverlässig sichergestellt werden, dass eine Impfung, die die berechnete Aussicht verfehlt, nicht den Impfgedanken auf Dauer beschädigt.

 

Dr. med. Wolfgang Schneider-Rathert, Leiter der DEGAM-AG Impfen 

Bevenroder Str. 30a 

38108 Braunschweig 

Kontakt: 

DEGAM-Bundesgeschäftsstelle 

Friedrichstraße 133 

10117 Berlin 

Tel.: 030-20 966 9800 

geschaeftsstelle@degam.de

 

1 vgl. 6.5. Qualität der Evidenz zur Wirksamkeit nach GRADE, S. 17 der Beschlussvorlage 

2 § 630 e (1) Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können. Im Internet unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__630e.html (letzter Zugriff am 7.5.2018)

3 Winer et. al. Condom Use and the Risk of Genital Human Papillomavirus Infection in Young Women. N Engl J Med 2006; 354:2645-2654 „In women reporting 100 percent condom use by their partners, no cervical squamous intraepithelial lesions were detected in 32 patientyears at risk, whereas 14 incident lesions were detected during 97 patient-years at risk among women whose partners did not use condoms or used them less consistently.“ Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Meta-Analyse von Manhart LE, Koutsky LA. Do condoms prevent genital HPV infection, external genital warts, or cervical neoplasia? A meta-analysis. Sex Transm Dis 2002;29(11):725-35.

4 Nielson CM, Harris RB, Nyitray AG, et al. Consistent condom use is associated with lower prevalence of human papillomavirus infection in men. J Infect Dis 2010;202(3):445-51 - Reduktion der HPV-Praevalenz bei heterosexuellen Männern um von 53,9% auf 37,9% bei dreimonatigem, konsequenten Kondomgebrauch. 

5 n§20 Infektionsschutzgesetz Die Kommission gibt Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und zur Durchführung anderer Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten und entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Im Internet abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/__20.html, letzter Abruf am 7.5.2018. 

6 Positionspapier der DEGAM: Impfen um jeden Preis? Impfmüdigkeit in Deutschland?, Für die DEGAM erarbeitet von Ledig T, Egidi