Eine medikalisierte Gesellschaft? | Peter Selg

Professor Sucharit Bhakdi hat Ken Jebsen ein Interview gegeben, das in kurzer Zeit eine außerordentliche Verbreitung fand. Dieses Interview hat mich sehr beeindruckt, fast so wie Navid Kermanis Reden in der Frankfurter Paulskirche bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (Oktober 2015) und im Deutschen Bundestag zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes (Mai 2014).

 

Ein Urteil über Bhakdis Aussagen zur aktuellen virologischen, epidemiologischen und klinischen Situation der Pandemie in Deutschland steht mir nicht zu, obwohl mir vieles von dem, was er ausführte, einleuchtend und plausibel erscheint; zur wirklichen Beurteilung aber fehlen mir das Fachwissen und der Überblick, zumal die diesbezüglichen Einschätzungen weit auseinander gehen. Die eindrucksvoll vorgebrachten Sorgen und Befürchtungen Sucharit Bhakdis zur politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Lage, zur Frage der Demokratie, der Freiheit und des sozialen Umgangs sowie seine Betroffenheit darüber teile ich jedoch in vollem Umfang.

 

Diese Sorgen und Befürchtungen sind auch in einem geschichtlichen Horizont sehr berechtigt, wie ich meine, vor dem geschichtlichen Hintergrund unseres Lebens in Deutschland und Europa. Ich möchte an dieser Stelle auf das kleine Buch des Yale-Historikers Prof. Timothy Snyder hinweisen, das 2017 erschien, auf seine „20 Lektionen aus dem 20. Jahrhundert“. Es ist eine knappe, aber wichtige Schrift. Auf S. 114 der Taschenbuchausgabe heißt es:

 

Die Demokratie ist in Europa in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren gescheitert, und heute scheitert sie nicht nur in einem Großteil Europas, sondern auch in vielen Teilen der Welt. Es ist diese Geschichte und Erfahrung, die uns das finstere Spektrum unserer möglichen Zukunft offenbart.

 

Timothy Synder schrieb das drei Jahre vor der weltweiten „Corona-Krise“. Aber die Tendenz zu autoritären Gesellschaften, zum Abbau der Demokratie, zur Zunahme des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, zum Rückgang der Medienfreiheit, zu dirigistischen Obrigkeitssystemen, zu Überwachungsstaaten mit technischer Perfektion sehen wir seit Jahren in erschreckender Weise am Werk, die Richtung und den „Ruck“ nach rechts in der Gesellschaft, mit totalitären Entwicklungstendenzen in einzelnen Ländern, darunter auch in Europa. „Und es ist viel mehr als nur ein Ruck. 

 

Die liberale Demokratie, das gesellschaftliche und ökonomische Erfolgsmodell des 20. Jahrhunderts, ist fragiler als gedacht“, schrieb Sascha Lobo in seinem lesenswerten Buch „Realitätsschock“, das 2019 erschien. Wir sehen auch die demokratiefeindliche Macht der Großkonzerne und des Großkapitals, das seine Interessen rücksichtlos durchsetzt – trotz bestehender demokratischer Ordnungen in vielen Ländern. Die Menschen, die Umwelt und das Klima werden nicht berücksichtigt und nicht gefragt, wenn massive ökonomisch-industrielle Anliegen im Spiel sind, und die Verfassung wird zur Farce.

 

Ich bin darüber hinaus der Auffassung, dass ein Abbau oder Rückbau des Pluralismus, der Meinungsfreiheit, der Lebensvielfalt auch im wissenschaftlichen Bereich seit Jahren zu beobachten ist. Der methodische Wissenschaftspluralismus, der sich in den 1970er und 1980er Jahren entwickelte – nach den Arbeiten von Feyerabend und Kuhn, dem Einsatz von Kienle und anderen – erscheint mir in Auflösung begriffen, und auch die „Skeptiker“ sind nur ein Symptom dieses Rückgangs, ein Symptom einer autoritären Normalisierung und Regulierung des Wissenschaftsbetriebs, ein Ausdruck der fiktionalen und dogmatischen Behauptung: es gäbe die Wissenschaft, eine einheitliche und einzige, normative. Diese normative Wissenschaft – „die Wissenschaft“ – ist in sich alles andere als „frei“, sondern von Finanzierungen abhängig, in erster Linie von der Industrie. Was würde heute aus einem genialen Querdenker und hochgebildeten Akademiker wie Ivan Illich werden, der in den 1970er und 1980er Jahren mit seinen Schriften und Vorträgen so populär und wirksam war, seinen kritischen Einwürfen zum Schulsystem, zu „Fortschrittsmythen“, zur „Entmündigung durch Experten“ und anderen Problemen?

 

1977 erschien die deutsche Ausgabe von Illichs „Grenzen des Gesundheitswesens“ mit dem Obertitel „Die Nemesis der Medizin“; ich las das Buch 1981 in der von Freimut Duve herausgegebenen „rororo aktuell“-Ausgabe, mit 18 Jahren, kurz vor dem Abitur – Illichs außerordentlich fundierte und prägnante Kritik an der ärztlichen Monopolisierung und am „Szientismus“ des modernen Gesundheitswesens, der „Medikalisierung des Lebens“, wie er das nannte, und ihren verhängnisvollen Folgen sprach mich damals sehr an. Den Einbruch des industrialisierten Medizinbetriebes, auch in alte, traditionelle Kulturen, untersuchte Ivan Illich, Sohn einer jüdischen deutschen Mutter und eines kroatischen Katholiken unter anderem in Südamerika sehr genau. Was würde er, der in Mexiko lehrte, heute zum verordneten „Shutdown“, zum Einfrieren des ganzen gesellschaftlichen Lebens nach den Vorgaben von Virologen sagen? 

 

Von der totalitären Utopie öffentlicher Gesundheit

 

Ich komme zu Sucharit Bhakdi zurück; seine Aussagen gingen mir nahe, und dies gerade auch dort, wo er über Deutschland sprach – er, der von weither Gekommene. Zum „finsteren Spektrum“ der Geschichte und Erfahrung Europas (Snyder) gehört das nationalsozialistische Deutschland bekanntlich im Kern, und dieses finstere Spektrum umfasst auch die Medizin, ich meine hier: die Medizin im Nationalsozialismus, die Rolle der Medizin im totalitären System. Darüber sprach Sucharit Bhakdi nicht, das ist nicht sein Thema – und es war auch nicht das Thema Ivan Illichs, der nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht aus Wien nach Italien fliehen konnte, dort Philosoph, katholischer Theologe und Priester wurde, um dann nach New York und nach Lateinamerika zu gehen.

 

Mir jedoch geht das Thema seit Jahrzehnten „unter die Haut“, weil ich 1963, achtzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, geboren wurde, in der Schule nahezu nichts vom Nationalsozialismus hörte, aber mein Medizinstudium zu einer Zeit begann (1986), als die NS-Medizin zum öffentlichen Thema wurde. In Witten/Herdecke, meiner Universität, lehrte Klaus Dörner, der engagierte Sozialpsychiater aus Gütersloh, die medizinischen Aspekte des Nationalsozialismus; zu Dörners Verdiensten gehört unter anderem die späte, aber komplette Edition des Nürnberger Ärzteprozesses. Später absolvierte ich selbst eine psychiatrische Ausbildung und setzte mich unter anderem mit den grausamen Krankenmorden an psychiatrischen Patienten in der NS-Zeit auseinander, die mit erbbiologischen und gesundheitspolitischen Argumenten begründet wurden (jedoch in Wahrheit in erster Linie ökonomisch motiviert waren). Seit 2009 veranstalten wir von der Universität Witten/Herdecke medizinethische Seminare in Auschwitz-Birkenau; es wurde einiges dazu veröffentlicht.

 

Ich möchte und ich muss das heikle Thema der NS-Zeit in meine nachfolgenden Überlegungen mit einbeziehen, weil ich der Auffassung bin, dass das Unbehagen an der „medikalisierten Gesellschaft“ bzw. der „Medikalisierung des Lebens“ zumindest indirekt mit diesem Thema zu tun hat – und weil man an dem geschichtlichen Extremfall etwas besser verstehen kann, was als andauernde Problematik der Moderne existiert und vielen Menschen gegenwärtig große und, wie ich meine, berechtigte Sorgen bereitet. Es geht um die Bedeutung medizinischer Argumente in politisch-sozialen Auseinandersetzungen und um die Bedeutung der Gesundheitspolitik für die Politik im Ganzen, für das Leben der Gesellschaft, für unser aller Leben.

 

Dabei ist mir klar, dass mein Blickwinkel geprägt ist. Wenn man sich mit der NS-Zeit und der Rolle der Medizin intensiv auseinandersetzt, sieht man anders auf manche Vorgänge der Gegenwart, in besonderer Weise alarmiert und empfindlich, das möchte ich in Rechnung stellen. Ob überempfindlich bleibt dahingestellt. Aber es fehlt meiner Stellungnahme zu den aktuellen Ereignissen und Vorgängen – sehr wahrscheinlich deswegen – eine gewisse Gelassenheit, eine ruhige Zuversicht, die ich an manchen meiner ärztlichen Kollegen feststelle. Sie leisten ihre Arbeit für die Patienten inmitten veränderter Umstände und finden die Vorsichtsmaßnahmen sinnvoll und weitgehend unproblematisch. Ich aber nicht.

 

*

 

Die Medizin steht seit vielen Wochen wieder im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses, nicht die gravierende Erderwärmung und ihre katastrophalen Folgen, nicht die Welternährung, nicht die Flüchtlinge, nicht die Armut in Afrika und anderswo, sondern die Intensivbetten bestimmen die Schlagzeilen. Die Infektionszahlen, die Zahl der Erkrankten und Gestorbenen dominieren in der Berichterstattung, die Stellungnahmen der Experten, sodann die Schutzund ProphylaxeMaßnahmen. Klaus Dörner sprach früher einmal von einer „Medicokratie“. Eine solche „Medicokratie“ aber ist und bleibt ein gefährliches Gesellschaftsmodell, wie ich glaube und am geschichtlichen Extremfall illustrieren möchte. In keiner Weise ist dieser Extremfall mit dem gegenwärtigen Zustand zu vergleichen, was ich beim Lesen des gesamten folgenden Textes zu bedenken bitte. Es geht überhaupt nicht um den Vergleich, sondern um etwas ganz anderes.

 

Allerdings stand die Medizin auch von 1933 bis 1945 stark im gesellschaftlichen Zentrum – nicht infolge einer Pandemie, sondern weil sie für die Errichtung einer biopolitischen Diktatur zwingend gebraucht wurde, einer Diktatur, die das Leben des Einzelnen und des ganzen „Volkskörpers“ im Blick hatte und bestimmte, vom Anfang bis zum Ende zu beherrschen suchte, aus „rassischen“, ökonomischen und industriellen Gründen. Das diktatorische System wollte das Leben regulieren und tat es auch – von der Erbgenetik und der Schwangerschaft bis zum Tod, dirigistisch, selektierend und optimierend. Die Einzelheiten der unfasslichen Verbrechen sind mittlerweile allgemein bekannt – von den ca. 400.000 Zwangssterilisationen und ca. 200.000 Krankenmorden in Deutschland bis zu den 6 Millionen jüdischen Menschen, die als Angehörige einer genetisch „minderwertigen Rasse“ getötet wurden, genau wie die Sinti und Roma und andere unerwünschte Randgruppen der Gesellschaft. Weniger allgemeint bekannt sind die Denkgrundlagen des Vorgehens.

 

Was die Beteiligung der Medizin und der Ärzte am System der Beherrschung, der Selektion und Tötung angeht, ist, wie ich meine, wichtig zu wissen, dass der Einbezug der Medizin in die Staatsverwaltung und Staatswissenschaft bereits Ende des 18. Jahrhunderts, in der Zeit des Absolutismus und Merkantilismus begann, in einer Zeit, in der nicht zufällig auch die „Medizinalstatistik“ entwickelt wurde, die in unseren Tagen wieder eine große Rolle spielt. Die Vision des „Systems einer vollständigen medizinischen Policey“ (Franck) stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts – und nicht aus der Ära des Nationalsozialismus, was zu beachten ist. Gesundheit wurde innerhalb dieses Systems nicht länger als Privatsache, sondern als öffentliche Angelegenheit definiert, und das Ideal der „wissenschaftlich begründeten Lebensführung“ – das heißt einer rationalen Lebensführung nach den Vorgaben der Wissenschaft – sollte in Zukunft staats und gesellschaftstragend, ja allgemeinverbindlich und zwingend werden. In einfachen Worten: Die Menschen sollten in Zukunft ihr Leben nach den Vorgaben der Wissenschaft einrichten, weil es die Staatsgesundheit und –ökonomie erfordert, die über allem steht. Der Medizinhistoriker Alfons Labisch arbeitete in bemerkenswerten Publikationen heraus, welche „totalitäre Utopie öffentlicher Gesundheit“ bereits damals entworfen wurde – in Verbindung mit politisch-ökonomischen Interessen.

 

Ich gehe geschichtlich weiter, wenn auch nur in groben Strichen. Im 19. Jahrhundert wurde die Naturwissenschaft maßgeblich für die ganze Medizin; diese verstand sich schließlich selbst als angewandte Naturwissenschaft und Technik und verkündete optimistisch die baldige Beherrschung und Elimination aller Krankheiten, ja, die Lenkung aller Leibesvorgänge nach „Belieben der menschlichen Vernunft“, wie der Physiologe Carl Ludwig 1852 betonte. Sie tat dies im Bann einer epochalen Utopie des Fortschritts, die mittlerweile von kritischen Medizinhistorikern in ihrer Problematik hinreichend aufgearbeitet wurde, damals jedoch, ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, keinerlei Widerspruch duldete. Wer das „Evangelium der naturwissenschaftlichen Methode“ nicht anerkannte, als der einzigen Methode, „die überhaupt existiert“„verdiente“ den „Namen eines Arztes“ nicht mehr. Der Preis des Fortschritts war – für die Medizin als Ganzes genommen

– nicht unerheblich; die „Objektivierung“ des ehemaligen Patienten zum wissenschaftlichen „Fall“ setzte damals ein, die Leugnung seelisch-geistiger und sozialer Faktoren für Gesundheit und Krankheit, der Rückgang der Empathie und die Auflösung der therapeutischen Beziehung, die Umwandlung von Hospitälern in wissenschaftliche Beobachtungsund Forschungsanstalten – und einiges andere mehr, was hier nicht im Einzelnen thematisiert werden muss.

 

Nicht nur unangenehm, sondern gefährlich wurde die Situation, als sich der medizinische Fortschrittsoptimismus an der Wende zum 20. Jahrhundert mit den Paradigmen des Sozialdarwinismus und der Eugenik verband und die Medizin zum wesentlichen Instrument einer „eugenischen“ und „rassenhygienischen“ Optimierung des „Volkskörpers“ wurde. Die Diskussion darüber intensivierte sich in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg; was zunächst nur gesundheitspolitische Vision gewesen war, wurde dann unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus systematisch realisiert. Es ist bekannt, dass die deutschen Ärzte 1933-1945 nicht nur in der NSDAP und ihren Organisationen, sondern auch in universitären Führungsstellen (Rektoraten) überrepräsentiert waren und dass sie das Sterilisationsgesetz nahezu einmütig unterstützten; dass ihr Berufsstand eine eindrückliche Aufwertung durch das Regime erfuhr, von Anfang an hofiert und mit steigendem Einkommen und anderen Vergünstigungen versehen wurde, um zu einer der tragenden Säulen des NSSystems zu werden, eines Systems, das als eine biopolitische Ordnungsdiktatur im Sinne Foucaults beschreibbar ist (aber von den meisten der Ärzte erst sehr spät durschaut wurde). Viele Maßnahmen des NS-Regimes wurden zum Teil medizinisch, zum Teil mit medizinischer Metaphorik begründet – auch die Verfolgung und Vernichtung des Judentums, das als „Ferment der Zersetzung“, „Virus“ und „Schädling“ am „gesunden Volkskörper“ Deutschlands bezeichnet wurde, als Träger furchtbarer Erbkrankheiten. Darüber sprach „Reichsärzteführer“ Wagner, der eine hohe Position im Machtgefüge des NS-Staates innehatte, auf dem Nürnberger Reichsparteitag vor Verkündigung der „Rassengesetze“ (an denen er wesentlich mitgewirkt hatte).

 

Obwohl uns heute das Vorgehen des NS-Regimes und seine Ziele vollkommen aberwitzig, irrational und höchst grausam erscheinen, galten viele seiner „bevölkerungspolitischen“ Ziele damals als „wissenschaftlich“ sinnvoll und notwendig – und die in diesem System erzogenen Ärzte, zu deren universitären Lehrfächern Rassenhygiene, Erbbiologie, Wehrmedizin und anderes gehört hatten, glaubten sich auf dem richtigen Weg, auch medizinisch auf dem richtigen Weg. Labisch schreibt:

 

Die führenden NS-Ärzte sahen die Gesundheitssicherung des Nationalsozialismus gänzlich im Rahmen der naturwissenschaftlichen Entwicklung der modernen Medizin. Nach der ‹hygienischen Revolution im medizinischen Denken›, den naturwissenschaftlichen Gesundheitswissenschaften und dem wie selbstverständlich vollzogenen Wechsel von der Sozialzur Rassenhygiene stellten sich die NS-Ärzte in ihrer Interpretation an die Spitze der medizinischen Entwicklung. Die medizinischen Maßnahmen galten ihnen als wissenschaftlich, therapeutisch und ethisch gerechtfertigt und damit als geboten. Die NSMedizin legitimierte und exekutierte das biologistische Gesellschaftsmodell des Nationalsozialismus weitgehend selbständig. Der Nationalsozialismus und die Medizin im Nationalsozialismus sind dem Projekt der Moderne immanent. 

 

Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ war das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in ihre Ärzte erschüttert, die mit der politischen Führung mehrheitlich kooperiert, Fragebögen ausgefüllt und Gesundheitsdaten behördlich weitergereicht hatten. Als zwanzig deutsche Ärzte, darunter Universitätsprofessoren, sowie drei hohe Bürokraten 1946/47 im ersten Folgeprozess der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vor Gericht gestellt wurden, entsandten die sich neu formierenden westdeutschen Ärztekammern eilig eine „ärztliche Kommission“ zur Prozessbeobachtung, um den Schaden am öffentlichen Ansehens der Ärzte nach Möglichkeit zu begrenzen – unter anderem durch die Behauptung, die deutschen Mediziner hätten mit dem NS-Regime nichts zu tun gehabt, bis auf wenige pathologische Verbrecher. Ungeschickterweise wurde die Leitung der Kommission jedoch einem habilitierten Neurologen aus der Schule Viktor von Weizsäckers anvertraut, der ein genuines Interesse an einer genauen Aufarbeitung des Geschehens hatte, um aus ihm Lehren für die Zukunft ziehen zu können: dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Mitscherlichs Dokumentationen, die er mit einem seiner Studenten (Fred Mielke) 1947/49 unter dem Titel „Das Diktat der Menschenverachtung“ bzw. „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ vorlegte, wurden innerhalb der ärztlichen Profession wenig rezipiert und waren insgesamt unerwünscht. Mitscherlich, der als unkollegialer „Nestbeschmutzer“ und „Vaterlandsverräter“ apostrophiert wurde, beschuldigte jedoch niemanden persönlich, sondern zeigte vielmehr auf, wie sehr die Medizin in den NS-Staat integriert gewesen war, wie unfrei die Ärzte gehandelt hatten, wie sehr sie im Dienst medizinfremder Mächte und Interessen standen – und auch, zu welch gefährlichem Instrument die Medizin im Griff politischer, ideologischer und ökonomischer Kräfte werden kann. Dies insbesondere dann, wenn die Medizin keine eigene Anthropologie (oder, so Mitscherlich, „Menschenkunde“) entwickelt hat und sich lediglich als „weltanschauungsneutrale“ Naturwissenschaft definiert.

 

Alexander Mitscherlichs Diskussion der geistigen Grundlagen der Humanmedizin und der medizinischen Ausbildung war Ende der 1940er Jahre unwillkommen – und es dauerte Jahrzehnte, bis er mit seinen Anliegen in der Zeit der APO und der Studentenproteste erstmals wirklich Gehör fand; die von ihm begonnenen Forschungen zur NS-Medizin wurden erst Anfang der 1980er Jahre fortgesetzt. Ab dem Jahr 1986 gab es an der von Gerhard Kienle gegründeten Universität Witten-Herdecke erstmals einen Medizinstudiengang, der den Abgründen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, der „Geschichte und Erfahrung“ (Snyder) umfänglich Rechnung tragen und die Konsequenzen aus dem Missbrauch der Medizin ziehen wollte. Die Ausbildung der Studierenden könne, so Kienle, nur dann als erfolgreich angesehen werden, „wenn sie zur Fähigkeit der persönlichen Verarbeitung und damit zur inneren Freiheit gegenüber den Aussagen, Methoden und Erkenntnisgrundlagen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen sowie zu einer Vertiefung des Verantwortungsbewusstseins gegenüber der Mitwelt“ führe. „Denkstile“ und „Denkkollektive“ (Ludwik Fleck) sollten von den Studierenden früh durchschaut werden; Ziel sei, den Zugang zu den „sozialgestaltenden Kräften“ zu finden und jenen Tendenzen zu widerstehen, „die jetzt über die Gesundheitspolitik und im Sozialen zerstörend auf uns zukommen.“ – „Es ist notwendig, dass etwas in uns an innerer Gestaltungskraft entsteht, das die Zerstörung ins Gleichgewicht mit Zukunftskräften bringt.“ (Kienle, 198212)

 

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Alexander Mitscherlich und Gerhard Kienle arbeiteten nach 1945 dafür, dass die Medizin zu einer eigenständigen, neuen Begründung ihrer selbst kommen und sich aus alten Abhängigkeiten lösen konnte, womit nicht in erster Linie der Faschismus gemeint war, sondern die generelle Instrumentalisierbarkeit der Medizin durch politische und ökonomische Interessen. Beide, Mitscherlich und Kienle, unterstrichen, wenn auch auf unterschiedliche Art, dass die Medizin zu eigenständigen medizinisch-therapeutischen Begriffsbildungen, Qualitäten und Zielsetzungen finden und tatsächlich frei werden müsse, frei auch von fragwürdigen und am Ende fatalen Menschenbildern, die in sie hineingetragen und nicht aus ihr selbst entwickelt werden.

 

Der kritische Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt jedoch, dass Mitscherlichs und Kienles Initiativen zur Befreiung und zum Mündigwerden der Medizin als Heilkunde letztlich kein durchgreifender Erfolg beschieden war, zumindest nicht im Großen. Das Krankenhauswesen und das Gesundheitssystem wurden ab den 1990er Jahren vielmehr einem folgenreichen Diktat der Ökonomisierung unterworfen, das die Standardisierung und Entpersonalisierung klinischer Abläufe mit sich brachte. Der industriell-technologische Innovationsund Optimierungsdruck mit großen finanziellen Interessen wirkt darüber hinaus ungebrochen und massiv auf die Medizin ein – ebenso wie staatliche Zielsetzungen, Kontrollund Planungsanliegen sowie administrative Systeme mit eigener Logik. Selbst das mechanistische Menschenbild des 19. Jahrhunderts mit Krankenhäusern als effektiven Reparaturbetrieben ist noch immer voll in Kraft – trotz allen Bemühungen um eine geisteswissenschaftliche Erweiterung, Vertiefung und Erneuerung der Medizin, trotz einem 20. Jahrhundert der Psychologie, Psychotherapie, Psychosomatik und Biographik. Der medizinisch-anthropologischen Grundlagendiskussion stehen andere Interessen und Mächte gegenüber, die viel mit Geld zu tun haben; der „technische Imperativ“ (Hans Jonas) wirkt weiter, und seine Versprechungen werden mit Hilfe der Medien weltweit verbreitet. 

 

Dialektik von Schutz und Verweigerung der Gesundheit

 

Man kann sich fragen, was all dies mit der aktuellen CoronaKrise und ihrer Bewältigung zu tun hat, dem „größten Schock seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Vogel). Vordergründig nichts. Auf der anderen Seite wird durch die geschichtliche Besinnung, so meine ich, deutlich, dass „die Medizin“, entgegen landläufiger Meinung, kein eigenständiger und freier Faktor in der Gesellschaft ist – auch nicht in der aktuellen Pandemie. Die Ärzte betreuen die Patienten innerhalb und außerhalb der Intensivstationen – und dies mit großem Engagement und an vielen Orten mit existentiellem Einsatz. Sie sind nicht das Problem, ganz im Gegenteil. Die medizinisch bzw. pathogenetisch begründeten Zielvorgaben der Virologie – bzw. die Vorgaben einzelner Virologen – und die politisch-administrativen Verordnungen entstammen gar nicht der Medizin im engeren Sinne und werden auch keineswegs von allen Ärzten in dieser Form für sinnvoll und notwendig erachtet. Nicht wenige Ärzte warnen vor den Folgen des kompletten „Shutdowns“, dem „Einfrieren“ der Gesellschaft und vor der Isolierung der Menschen mit unübersehbaren Folgen im ökonomischen, sozialen, psychologischen, zivilgesellschaftlichen, kulturellen und gesundheitlichen Bereich. Die getroffenen Maßnahmen sind normativer Natur und treffen alle Individuen; obschon zum „Schutz“ der Bevölkerung erlassen, können sie die Einzelnen (bzw. sehr viele Einzelne) erheblich schwächen und schädigen, nicht nur in seelisch-geistiger und sozialer Hinsicht, sondern auch körperlich, wovon jedoch fast keine Rede ist – auch nicht von den diesbezüglichen Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie oder einer groß angelegten Metastudie aus dem Jahr 2010, die zeigte, dass das Mortalitätsrisiko unter mangelnden Sozialkontakten stärker ansteigt als durch Rauchen oder Übergewicht.

 

Ivan Illich hatte vor der „Medikalisierung der Gesellschaft“ und der „Enteignung der Gesundheit“ gewarnt, vor einer Fortführung dessen, was Alfons Labisch für das späte 18. Jahrhundert als „totalitäre Utopie öffentlicher Gesundheit“ und einer „wissenschaftlich begründeten Lebensführung“ beschrieben hat. Illich würde sich heute, wie ich glaube, angesichts vieler Corona-Maßnahmen in seinen Warnungen und Voraussagen sehr bestätigt sehen und dies im Hinblick auf arme und reiche Länder. Rund 120 Millionen Taglöhner und Wanderarbeiter wurden in Indien aus Gründen des „Infektionsschutzes“ ihrer Existenzgrundlagen beraubt und mussten unter entsetzlichen Bedingungen zu Fuß viele Hunderte von Kilometern in ihre weit entfernten Heimatdörfer zurückkehren, geschlagen und gedemütigt von der Polizei, weil sie sich nicht an die „Ausgangssperre“  hielten;  anderswo  dürfen Slumbewohner ihre militärisch bewachten Elendsviertel nicht mehr verlassen. Auch in europäischen Altenheimen wird alten Menschen zum Teil der Gang an die frische Luft verwehrt. Unzählige Beispiele wären aufzuführen, wo das System des „Schutzes“ in sein Gegenteil umschlägt und der angerichtete Schaden die Bedrohung durch das Virus im Einzelfall weit übersteigt – nicht nur auf sozialpsychologischer, sondern auch auf medizinischer Ebene. Von den durchaus vorhandenen prophylaktischen und therapeutischen Möglichkeiten, die Abwehrkräfte der Individuen gezielt zu stärken, ist offiziell wenig oder nicht die Rede, sondern nahezu ausschließlich von Hygienemaßnahmen und „sozialer Distanz“, Abschirmung und Impfung – gegen Covid 19 und in der Folge wohl auch gegen viele andere Virusepidemien. Ivan Illich aber schrieb schon 1977:

 

Das gesundheitliche Niveau wird […] dort am höchsten sein, wo die Umwelt die Menschen zu persönlicher, autonomer, verantwortlicher Lebensbewältigung befähigt. Das gesundheitliche Niveau sinkt nur dort, wo das Überleben übermäßig von der heteronomen (fremdbestimmten) Regelung der organischen Gleichgewichte abhängig gemacht wird. Jenseits einer kritischen Menge ist die institutionelle Gesundheitsfürsorge – gleichgültig ob in Form von Therapie, Prävention oder Umweltplanung – gleichbedeutend mit systematischer Verweigerung von Gesundheit.

 

Diese „kritische Menge“ ist durch die gegenwärtigen CoronaMaßnahmen weit überschritten. Was für eine unübersehbare Summe von psychischem, körperlichem und sozialem Leid, von Suiziden und schweren Gewalttätigkeiten bis hin zu den allein auf den Intensivstationen liegenden und allein sterbenden Menschen, zu denen in manchen Ländern jeder Zugang verboten wird, und den nicht in Würde stattfindenden Beerdigungen. Das Besondere des Menschen, so führte Hans-Georg Gadamer vor Jahren aus, liegt in seinem Vorrecht, seine Toten zu bestatten. „Damit steht der Mensch unter allen Lebewesen einzig da, so einzig, wie durch den Besitz der Sprache, oder vielleicht noch ursprünglicher.“ „Schutzmaßnahmen“, die die Gestaltung einer solche Bestattung verhindern, machen daher auch sprachlos.

 

Auf sehr viele Menschen wirkt das mittlerweile fast weltweit etablierte und als völlig „alternativlos“ dargestellte, in dieser Form nie dagewesene Schutz-System in vielen Zügen als irrationales und fatales Sozialexperiment, auch wenn sie sich der vorgebrachten medizinischen Argumente nicht zu erwehren wissen. Zu denken gibt dabei, dass die Akzeptanz des „Shutdown“ in der Bevölkerung offensichtlich nur mit einer geballten Macht von Nachrichten und Bildern zu erreichen war, mit einer wie gleichgeschaltet wirkenden Medienlandschaft, die alle anderen Themen zunächst vollständig zur Seite schob und Zahlen über Zahlen, Statistiken über Statistiken, Särge über Särge zeigte. Der durch die Maßnahmen erzeugten Not wurde dagegen sehr wenig Raum in der Berichterstattung gegeben; Widerspruch gegen das Vorgehen der Regierung und alternative Strategien, der Pandemie zu begegnen, hatten medial keine Chance, wurden von vornherein negativ kommentiert und mussten sich eigene Kanäle suchen. Tauchten entsprechende Nachrichten im Internet auf, waren sie häufig bald wieder verschwunden – und die Buchhandlungen waren wie alle anderen „nicht lebenswichtigen“ Läden geschlossen. Wann hat man eine so tendenziöse Berichterstattung außerhalb totalitärer Systeme je zuvor erlebt? Die Macht der Bilder und Zahlen aber wirkt – tief in die Psychen der Menschen hinein, in ihr Selbstund Lebensverständnis und ihr Sozialverhalten. In seiner neunten „Lektion“ schrieb Timothy Snyder:

 

Vor mehr als einem halben Jahrhundert warnten die klassischen Romane des Totalitarismus vor der Herrschaft der Bildschirme, der Unterdrückung von Büchern, der Beschränkung des Wortschatzes und den damit verbundenen Schwierigkeiten des Denkens. In Ray Bradburys Fahrenheit 451, veröffentlicht 1953, spüren Feuerwehrleute Bücher auf und verbrennen sie, während die meisten Bürger interaktives Fernsehen schauen. In George Orwells 1984, veröffentlicht 1949, werden Bücher verboten und das Fernsehen ist nicht nur ein Empfänger, sondern erlaubt es der Regierung, die Bürger die ganze Zeit über zu beobachten. In 1984 ist die Sprache der visuellen Medien in hohem Maße eingeschränkt, um der Öffentlichkeit die Begriffe zu entziehen, die man braucht, um über die Gegenwart nachzudenken, sich an die Vergangenheit zu erinnern und Überlegungen hinsichtlich der Zukunft anzustellen.

 

 

Majorität und Minorität

 

In der Corona-Krise lassen sich jedoch nicht alle Menschen die mediale Bevormundung gefallen und versuchen stattdessen, was Synder in seiner elften „Lektion“ empfahl: „Frage nach und überprüfe. Ergründe Dinge selbst.“ Das „Suchen“,

„Ergründen“ und „Überprüfen“ spielt sich im Wesentlichen in jenem Internet ab, zu dem alle verurteilt sind. Kommen Menschen nach ausgedehnten, langdauernden und mühevollen Recherchen zu ganz anderen Infektions-, Todesund Letalitätszahlen, zu anderen Ergebnissen und Vorschlägen als die medial präsentierten Experten und vertreten sie ihre Gesichtspunkte öffentlich, so sehen sie sich einer massiven Welle der Kritik und Diffamierung ausgesetzt; sie werden unverzüglich in das Lager der „Verschwörungstheoretiker“ gedrängt, das damit zum generalisierenden Sammelpool aller abweichenden Meinungen geworden ist, zum bedenklichen, unter scharfer Beobachtung stehenden ideellen Massenquartier. Nicht wenige Kritiker landen in Elend und Verzweiflung. Wer möchte schon als leichtfertig und „unsozial“ bloßgestellt werden, als jemand, der offensichtlich nicht bereit ist, andere zu schützen und für seinen Egoismus den Verlust von Menschenleben in Kauf nimmt? Da die medizinische Wirklichkeit von Covid 19 in ihrem Gesamtumfang fast niemand zuverlässig kennt, kann sich tatsächlich auch niemand seiner Sache ganz sicher sein.

 

Die Zweifel am Vorgehen, seinen Hintergründen und seinen Folgen aber bleiben und nagen; die schweren Sorgen über die menschlichen und gesellschaftlichen Schäden wachsen von Tag zu Tag – und liegen wie ein bleierner Albtraum selbst über denen, die weder erkranken, noch von den Maßnahmen persönlich sehr betroffen sind und fürs erste privilegiert weiterleben, in ihrem Garten oder wo auch sonst. Obwohl das Unbehagen das persönliche Dasein schwer erträglich macht, zieht die Mehrheit der Menschen das Schweigen vor und nimmt die politische und gesellschaftliche, soziale, psychologische und pädagogische Lage hin, darunter auch hervorragende Pädagogen und Sozialpsychologen, markante Bürgerrechtler und bisherige Verteidiger der Demokratie, des deutschen Grundgesetzes und einer freien Gesellschaft. Sie nehmen sie hin, weil, wie gesagt, gegen die medizinische, gesundheitspolitische und „soziale“ Argumentation schwer Stand zu halten ist, auch nicht gegen die Bilder der Intensivstationen, und weil die Menschen mit einem Protest den Bruch enger Freundschaften und ihres persönlichen wie beruflichen Ansehens riskieren würden. Vielleicht auch, weil sie letztlich unsicher sind, obwohl das offizielle Bild durch „Swiss Propaganda Research“ und kritische Stellungnahmen von Kapazitäten wie Sucharit Bhakdi, Shiva Ayyadurai und anderen Wissenschaftlern und Ärzten längst Risse bekommen hat.

 

Unzweifelhaft ist, dass das Elend auch jenseits der direkten Pandemieopfer in Zukunft ungeheuer groß sein wird, das psychische, ökonomische, soziale und medizinische Elend. Sehr viele Menschen der Erde werden sterben oder tun es schon, keinesfalls aber nur „an“ oder „mit“ Covid 19, sondern auch aus Gründen, die mit den Gegenmaßnahmen in Zusammenhang stehen. Viele in den armen Ländern werden verhungern, weil ihr täglicher Lohn im komplett „eingefrorenen“ Leben nunmehr fehlt – wie auch vorher schon nahezu 30.000 Menschen pro Tag verhungert sind, Menschen, für die sich keine entsprechende mediale Repräsentanz mit Statistiken, Kurven und Särgen fand, ebenso wenig wie für die Toten der Umweltschäden, für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge und viele, viele andere. Eineinhalb Millionen Menschen sterben weltweit jährlich an der Tuberkulose-Erkrankung, was durch die Besserung ihrer Lebensbedingungen verhindert werden könnte, ca. acht Millionen Menschen an den direkten Folgen der Luftverschmutzung – fast genau so viele an den Folgen von Medikamenten-Nebenwirkungen, was keinen Eingang in die Massenmedien findet. Nun wird plötzlich gesagt, nichts stehe höher als ein Menschenleben und deshalb seien alle Corona-Maßnahmen gerechtfertigt; wie aber stand es bisher mit der Hochschätzung von Menschenleben und den notwendigen Reaktionen? Immer wieder war doch zu hören gewesen, es fehle das Geld zur Hilfe; nun ist plötzlich unglaublich viel Geld vorhanden. „Wir legen alle Waffen auf den Tisch“, sagte der deutsche Bundesfinanzminister. Wie merkwürdig. Aber das Ansehen der Regierung steigt von Woche zu Woche.

 

Im Internet oder mitunter selbst im Radio können nachdenkliche und skeptische Menschen erfahren, dass einige ihrer Positionen und Sorgen mittlerweile von politisch rechten bis rechtsradikalen Kräften vertreten oder mit diesen medial assoziiert werden („Reichsbürger“) – darunter ihre Zweifel an der selbstlosen Lauterkeit der Absichten von Bill Gates und der von ihm mitfinanzierten WHO, an den drohenden globalen Zwangsimpfungen oder der beabsichtigten Kontrolle von Bewegungsdaten, möglicherweise bald auch von allen anderen Gesundheitsund Personendaten (zur Erfassung der von Lobo beschriebenen zweiten „digitalen Körperlichkeit“). Angesichts dieser Tatsache – der Okkupation freiheitlicher Positionen durch politisch rechte Kreise – scheint nur noch der eigene Rückzug ins Private übrig zu bleiben. Lieber im persönlichen Versteck leben, als mit solchen Leuten gemeinsam zu demonstrieren oder auch nur in Verbindung gebracht zu werden, so sagt sich mancher. – Aber ist es denn möglich, berechtigte Positionen deswegen aufzugeben, weil sie von den falschen Kräften (aus welchen Gründen auch immer) politisch besetzt werden? Von totalitären Kräften, wo es doch gerade um die Verhinderung des Totalitarismus geht?

 

Timothy Snyder erinnerte an Hannah Arendts Verständnis von Totalitarismus – dieser muss nicht notwendig den „übermächtigen Staat“ bedeuten, sondern meint die Aufhebung des Unterschieds zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Wenn das elektronische Bewegungsprofil eines Menschen aus „medizinischen“ oder „gesundheitspolitischen“ Gründen erfasst wird, löst sich der Unterschied zwischen privater und öffentlicher Sphäre auf, das hätte schon George Orwell so gesehen. Aber schon ohne „App“ hat die Kultur der Überwachung und des Misstrauens längst bei uns begonnen; Nachbarn sind dabei, untereinander zu überwachen, ob all die „medizinisch“ notwendigen Corona-Maßnahmen auch korrekt umgesetzt werden, und denunzieren sich gegenseitig. Auch jenseits der eigenen Straße wird die Stimmung gespannter – „Es häufen sich Szenen, in denen verunsicherte Blicke, Kritik, Argwohn oder Wut wegen eines nicht eingehaltenen Sicherheitsabstands oder offene Empörung über Gruppen das soziale Miteinander prägen.“ Damit entsteht eine Dynamik, die mit dem Virus und der Krankheit weniger zu tun hat als mit den zerstörenden Kräften des Sozialsystems, von denen Gerhard Kienle sprach.

 

Die Zukunft der freiheitlichen Gesellschaft

 

Wie eingangs betont, gehöre ich nicht zu denen, die das gravierende Pandemiegeschehen im medizinischen Sinne überblicken und die reaktiven Erfordernisse einschätzen können – und gehöre damit zu den unsicheren Menschen. Aber ich bin kritischen Fachleuten wie Prof. Sucharit Bhakdi und anderen dankbar, die sich nach innerem Überwinden und trotz persönlichen Risikos vernehmlich zu Wort gemeldet haben – so wie ich Navid Kermani immer dankbar für seine Reden und Bücher war. Kermani erinnerte im Deutschen Bundestag vor sechs Jahren das geistig-politische Deutschland an sich selbst, an seine kosmopolitische und humanistische Vergangenheit, von der er, ein grundgelehrter Islamwissenschaftler und Germanist, ein deutscher Staatsbürger iranischer Herkunft, mit Sicherheit sehr viel mehr weiß als die meisten Parlamentarier in Berlin. Er brachte etwas an den Ort des Bundestages zurück und in ihm zur Geltung, wovon dort lange nicht gesprochen worden war. Er erzielte Betroffenheit, auch bei den Abgeordneten – und ich habe bis heute den Eindruck, dass der vorübergehende Mut zur großzügigen Flüchtlingsaufnahme in Deutschland auch eine Folge seiner glänzenden Rede war.

 

Kermani hoffte auf Deutschland; auch Sucharit Bhakdi tut dies offensichtlich – wo, wenn nicht hier, angesichts dieser humanistischen Vergangenheit, aber auch angesichts des von Deutschland 1933-1945 Angerichteten und nach 1949 demokratisch neu Begonnenen, wo, wenn nicht hier, sollte ein antiautoritärer, freiheitlicher Weg aus der Krise gefunden werden, ein Weg im Sinne des Grundgesetzes und eines Humanismus, der nicht deckungsgleich mit maximalem Virenschutz ist. Es fällt Kermani und Bhakdi offenbar leichter auf Deutschland zu hoffen als manchen Deutschen ohne Migrationshintergrund, oder sagen wir: sich zu dieser Hoffnung zu bekennen. Sie können etwas Kostbares ansprechen oder in Erinnerung rufen, ohne des Nationalismus verdächtig zu werden. Es ist das Land ihrer Wahlheimat – zumindest noch. Ich hätte mir vor ein paar Jahren in den Auseinandersetzungen um die Aufnahme der Flüchtlinge sehr gewünscht, dass Angela Merkel nicht nur „wir schaffen das“ gesagt, sondern auch begründet hätte, warum Deutschland in einer besonderen und einzigartigen Verantwortung steht. Eine geschichtliche Verantwortung, die einen anderen Umgang mit heimatlosen, existentiell bedrohten Menschen auf der Flucht rechtfertigt, ja notwendig macht, auch wenn kein weiteres europäisches Land sich daran in diesem Umfang beteiligen wollte. Es gibt so etwas wie ein „historisches Gewissen“, und viele Menschen hätten Frau Merkel mit dieser Begründung bestens verstanden, innerhalb und außerhalb Deutschlands. Die Chancen für die AfD wären gesunken und nicht gestiegen, dessen bin ich mir sicher.

 

Auch Sucharit Bhakdi, der über Jahrzehnte an einer deutschen Universität lehrte, setzte offenbar Hoffnungen auf einen anderen Kurs Deutschlands in der Corona-Krise, und dies nicht ohne Grund. Die deutschen Maßnahmen gegen die Erkrankung waren bisher nicht besonders originell, aber auch keineswegs so rigide wie die mehrerer Nachbarländer – und es war und ist möglich, sich in Deutschland auch in dieser angespannten Lage nachdenklich und kritisch zu Wort zu melden, obwohl es deutlich schwieriger geworden ist.

 

Es wäre aber vordringlich, in Deutschland und Europa auch zu neuen Zielvorstellungen, zu angemessen Antworten einer freiheitlichen Zivilgesellschaft in einer fundamentalen Krise zu finden. Dafür sind meines Erachtens verschiedene Einsichten notwendig, darunter die folgenden:

 

-          Die Zoonosen kommen nicht als Überfall aus dem Nichts, sondern haben mit ökologischen Systemen und deren Labilisierung und Zerstörung zu tun. Das aber heißt: es müssen mit hoher Priorität Konzepte erarbeitet und umgesetzt werden, den kapitalistischen Raubbau an der Erde, an ihren Naturreichen und am sozialen Leben der Menschen zu beenden und eine ökologische, nachhaltige Landund Ernährungswirtschaft sowie eine sozialgerechte Ökonomie auf den Weg zu bringen. Dazu gehört ein neues Verständnis des Lebendigen, seiner Voraussetzungen und Bedingungen, eine Wissenschaft, die im Zeichen des Lebens und nicht des Todes steht. Dazu gehört desweiteren die kritische Hinterfragung des wissenschaftlichen Konzeptes, das an der Wende des 16. zum 17. Jahrhundert wesentlich von Francis Bacon („Novum Organon“) und René Descartes („Discours de la méthode“) entwickelt wurde, eines Konzeptes, demzufolge der Mensch „Herr und Besitzer“ der Natur ist und alle technologischen Eingriffe erlaubt und wünschbar sind.

 

-          Es ist das Ziel der freiheitlichen Gesellschaft und ihrer Humanmedizin, den Menschen zur „(selbst)verantwortlichen Lebensbewältigung“ (Illich) zu befähigen und nicht ihn vom Leben abzuschirmen. Nicht die „Enteignung der Gesundheit“, sondern deren gezielte Förderung ist von hervorragender Bedeutung für die Zukunft – damit auch die Unterstützung des Menschen, sich mit Hindernissen, darunter Mikroben, im Sinne einer „aktiven Immunisierung“ erfolgreich auseinandersetzen zu können. Dies erfordert eine anders ausgerichtete, methodisch und inhaltlich erweiterte Medizin mit einem nicht nur pathogenetischen („Wie entsteht Krankheit?“), sondern auch salutogenetischen Therapieansatz („Was ermöglicht Gesundheit“?), eine Medizin, die die Menschen stärkt und nicht schwächt.

 

-          Es erfordert außerdem die Befreiung des Gesundheitswesens vom Diktat der Ökonomie. Die Gewinnorientierung und faktische Industrialisierung des modernen Klinikbetriebes, die das „Prozessmanagement“, die Modularisierung und Standardisierung aller Abläufe mit sich brachte, die Pflegekräfte zu weiten Teilen wegrationalisierte und sich destruktiv auswirkte, muss unverzüglich rückgängig gemacht werden. In diesem Zusammenhang müssen auch die existierenden industriellen Interessen und Einflüsse, darunter auch der expandierenden Impfstoffhersteller, auf die Medizin (und auf staatliche und überstaatliche Gesundheitsbehörden) schonungslos offengelegt, analysiert und gesellschaftlich diskutiert werden – aber nicht nur in Außenseiterkanälen, sondern in den führenden Medien.

 

-          Medizinische Argumentationen und Argumentationslinien für gravierende gesellschaftspolitische Maßnahmen, darunter Grundrechtseinschränkungen, sind generell mit höchster Vorsicht zu betrachten.

 

-          Auch befristete Gesetzesveränderungen zum „Schutz“ der Bevölkerung neigen zur Chronifizierung, woran Heribert Prantl zuletzt am Beispiel der Sicherheitsgesetze aus der RAF-Zeit und der „AntiTerror-Pakete“ erinnert hat; sie werden zumeist als „Vorbeugungsmaßnahmen“ fortgeführt: „Fast alle Sicherheitsgesetze wurden nicht nur nicht aufgehoben, sie wurden auch noch ausgebaut und verschärft […]. Was bei den bisherigen Sicherheitsgesetzen der Terrorismus war, ist bei den Gesundheitssicherungsgesetzen das Virus. Das Virus wird zum Gesetzgeber.“

 

-          Notwendig ist eine pluralistische Wissenschaftskultur und nicht die Dominanz einzelner ausgewählter

„Experten“, denen Stellungnahmen gläubig gefolgt werden soll.

 

-          Die angemessenen Antworten auf die „CoronaKrise“ in den Bereichen des Rechtstaates, der Ökonomie und des kulturell-geistigen Lebens (zu dem auch die Medizin und Pädagogik gehören) müssen von den jeweiligen Fachleuten der drei Bereiche gefunden und dann miteinander diskutiert werden, statt im überkommenen „Einheitsstaat“ von oben herab, nach Hinzuziehung weniger Berater, angeordnet zu werden. „Top-down“-Entscheidungen der Exekutive, deren Folgen in Bereichen wirksam werden, von denen weder die politischen Funktionsträger noch die sie beratenden Mikrobiologen inhaltlich viel verstehen und für die sie keine persönliche Verantwortung übernehmen (darunter die Kindesentwicklung und Pädagogik), sind mit aller Entschiedenheit abzulehnen.

 

-          Es darf keinesfalls als wissenschaftliche Fakten öffentlich vertreten und damit handlungsleitend werden, was tatsächlich noch im Stand der Vermutung, der „Spekulation oder Hochrechnung“ ist.

 

-          Abweichende, kritische, aber in sich begründete und substantielle Meinungen sind für die komplexe Wahrheitserkenntnis immer von Interesse und Bedeutung, zumal die politisch handelnden Akteure einen begrenzten Horizont haben, den sie unbedingt erweitern müssen. Die Verwendung des Begriffs „Verschwörungstheoretiker“ für Menschen, die solche Ansichten vertreten, ist vollkommen inakzeptabel. Aufzuklären gilt es in einer freiheitlichen Gesellschaft stattdessen, wie interessierte Gruppen mit Hilfe der Massenmedien ihren einseitigen Sichtweisen und Narrativen gezielt zur Dominanz in der Gesamtbevölkerung verhelfen (wie dies unter anderem auch den Leugnern des Klimawandels über lange Zeit gelang).

 

-          Das Grundgesetz muss in Deutschland auch in Zeiten der Not genauso „unantastbar“ sein wie die Würde des Menschen, von der sein erster Paragraph handelt. Zu der grundgesetzlich geschützten Würde des Menschen gehört dabei auch die Würde des kranken, „behinderten“ und alten Menschen, von dessen „Schutz“ gegenwärtig so viel die Rede ist. Wie aber ist es mit dieser Würde bestellt, wenn alte und andere „gefährdete“ Menschen, darunter die Menschen mit Behinderungen in Pflegeheimen und Betreuungseinrichtungen nicht einmal mehr von ihren Angehörigen und engen Freunden besucht werden dürfen, die, ebenso wie die Betroffenen, keinerlei Mitspracherecht an den diesbezüglichen Bestimmungen des Staates haben – und diese faktische „Zwangsisolierung“ auf unabsehbare Zeit hin besteht? Die Tatsache, dass die Lage in den Altenheimen so schwierig ist, hat keineswegs nur mit dem Virus zu tun, sondern auch mit den Heimen selbst, ihrer Enge und Pflegeverarmung, ihrer oft desolaten Atmosphäre, skandalös schlechten Ausstattung und Struktur, ihrer absoluten Marginalisierung in der Leistungsund Konsumgesellschaft.

 

-          Kinder erfahren im konkreten Sozialraum das Leben, sie lernen und reifen an ihm, in der direkten Begegnung, und nicht am Bildschirm und seiner hygienisch-sterilen, virtuellen Welt. Den lebendigen Bildungsprozess in der realen Schule trennen Welten von den online-Programmen der Wissensvermittlung. Die forcierte „digitale Beschulung“ ist aus pädagogischer wie kinderund jugendpsychologischer Sicht ein tragisches, aber keineswegs überraschendes oder zufälliges Ergebnis der Krise. Die „Global Education“-Industrie verfolgt ihre Strategien zur weltweiten Vermarktung ihrer digitalen Lernprogramme seit längerer Zeit mit aller Macht – und die „Corona-Krise“ eröffnet ihr ein umfassendes Einfallstor.

 

-          Kinder haben ein absolutes Recht auf ihre Kameraden und auf das unverstellte, maskenlose Antlitz ihres Gegenübers, auf eine Entwicklung in einer sozialen Sphäre des Vertrauens und der Zuversicht. Eine durch Massenmedien systematisch verbreitete Angstund Panikepidemie ist für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, ihres Selbstund Weltverhältnisses und ihrer Beziehungsfähigkeit überaus schädlich. Dasselbe gilt für die Falschdarstellung der viralen Welt als primärer Bedrohung, ohne deutlich zu machen, wie sehr die Viren und Bakterien zum biologischen Bestand des Menschen gehören – und dass sein Immunsystem sich an der Auseinandersetzung mit Keimen der Außenwelt weiterentwickelt.

 

-          Das kulturelle Leben unter Einschluss der Religion ist ein lebenswichtiges Gut, das unbedingt gefördert und auch in Krisenzeiten „live“ (und nicht nur virtuell) aufrechterhalten werden muss, in echten Versammlungen und in echten Aufführungen mit echtem Publikum. Dies ist selbst unter medizinischen Gesichtspunkten (Psychoneuroimmunologie) von Bedeutung. Von künstlerischen

„Botschaften von Gemeinschaft und Humanität, deren immunstärkende, um nicht zu sagen: antivirale Effekte man nicht unterschätzen sollte“, schrieb zurecht Sonja Zekri. Die Abwehrkraft des Menschen, nicht nur des alten Menschen, bricht zusammen, wenn er seiner lebendigen sozialen und kulturellen Bezüge beraubt und isoliert wird, wofür es viele Beispiele gibt. Wie der kulturell-geistige Bereich in Zeiten mit einem erhöhten Hygienebedarf seine Aktivitäten weiterführen kann, muss von den Verantwortlichen dieses Bereiches autonom und kreativ erarbeitet werden. Äußerungen, denen zufolge dem kulturell-geistige Leben keine existentielle Bedeutung zukommt („Zerstreuung und Ablenkung“) sind entschieden zurückzuweisen.

 

-          Die primären und nahezu reflexartigen Antworten auf Krisen, die ein System produziert hat, neigen stets dazu, im Sinne des Systems auszufallen. Sie haben die Tendenz, das System und seine Prioritäten, Wertsetzungen und Hierarchien zu stabilisieren, anstatt sie in Frage zu stellen. So können sämtliche Krisen dazu benutzt werden, in der Richtung des Bisherigen, aber in intensivierter Weise fortzufahren – mit sehr vielen Verlierern und einigen eindeutigen Gewinnern. Diese gilt es rechtzeitig zu identifizieren und darüber öffentlich zu diskutieren.

 

-          Die freiheitliche Gesellschaft ist keinesfalls nur von politisch rechtsradikalen Kräften bedroht, sondern auch von vordergründig „unpolitischen“ Visionen einer kompletten technischen Überwachung, die sich in Zukunft noch oft medizinischer Argumente bedienen werden. Denn nichts lieben die Menschen so sehr wie ihr Leben – und für nichts anderes opfern sie ihre Freiheit und ihre Grundrechte schneller. Die digitalisierte Gesellschaft als technisches Steuerungssystem, in der der öffentliche Raum auch aus „medizinischen“ Gründen intensiv kontrolliert wird, rückt mit der „Corona-Krise“ – als einem passenden Anlass – entschieden näher, von China, das darin sehr weit fortgeschritten ist, nach Europa. Hierauf machte Sascha Lobo 2019 im Detail aufmerksam, noch vor Covid 19 und den Schutzmaßnahmen dagegen. In diesem Sinne formulierte auch die indische Schriftstellerin Arundhati Roy jüngst in einem Interview: „Für mich fühlt sich diese Pandemie an wie der Übergang von der einen in eine andere Welt.“ Der Schritt vom „Nachverfolgen der Infektionswege“ zum Nachverfolgen aller Wege der Staatsbürger ist nicht groß und die Rufe nach der – in Deutschland bereits vom Kabinett beschlossenen – „Digitalakte“, nach „Location Tracking“ und „Big Data“ sind, versehen mit medizinischen Argumenten, unüberhörbar. Vor einem „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ warnte der deutsche Staatsund Kirchenrechtler Hans Michael Heinig angesichts des neuen „Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27.3.2020, das selbst vom wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages in einzelnen Verordnungsermächtigungen als „verfassungsrechtlich problematisch“ eingeschätzt wird.

 

Epilog

 

„Glaube an die Wahrheit“, so überschrieb Timothy Snyder seine zehnte „Lektion“. „Engagiere dich für einen guten Zweck“ die fünfzehnte. „Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern“ die sechzehnte. Im Motto der neunten „Lektion“ steht:

 

Vermeide die Phrasen und Schlagworte, die jeder andere verwendet. Erfinde deine eigene Sprechweise, selbst wenn du nur das vermitteln willst, was in deinen Augen jeder sagt.

 

In diesem Sinne sind auch meine Ausführungen gemeint. „Sprich auch du“, steht bei Paul Celan, allerdings mit der Warnung verbunden: „Doch scheide das Nein nicht vom Ja“. Es ist wenig hilfreich und sogar sehr gefährlich, komplexe geschichtliche Situationen zu vereinfachen – und beispielsweise zu leugnen, dass Covid19 eine schwere Erkrankung mit vielen Todesfällen ist, auch wenn ihre Letalität sehr unterschiedlich beurteilt wird. Es ist auch problematisch, den handelnden Politikern und anderen Protagonisten des öffentlichen Geschehens totalitäre Absichten zu unterstellen, wobei unzweifelhaft aber ist, wie die Situation in vielen Ländern von autoritären Führern ausgenutzt wird; Sucharit Bhakdi hat sich gegen solche globalen Unterstellungen verwahrt. Allerdings wollte auch 1914 kein führender Politiker den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und doch ermöglichten und verstrickten sich alle in ihn und seine katastrophale Dynamik. Die „medicokratischen“, technokratischen und totalitär-destruktiven Kräfte, die sich der Lage, aber ebenso „der“ Wissenschaft bedienen, existieren; das zu leugnen oder darüber nicht zu reflektieren, als handelnder Politiker oder mitbetroffener Bürger, ist nicht nur naiv, sondern grob fahrlässig und führt in Katastrophen. Der autoritäre, digital organisierte Überwachungsstaat ist mit einer kapitalistischen Wohlstandsund Leistungsgesellschaft vereinbar, sofern die individuelle Freiheit zurückgenommen oder umdefiniert wird; dass der Totalitarismus der Zukunft ein anderes Gesicht als der Faschismus des 20. Jahrhunderts hat, ist seit langem klar und wurde von weitsichtigen Menschen wie George Orwell („Brave New World“) schon vor Jahrzehnten beschrieben. Wir sollten daher im Sinne von Timothy Snyder nichts unversucht lassen, „über die Gegenwart nachzudenken, sich an die Vergangenheit zu erinnern und Überlegungen hinsichtlich der Zukunft anzustellen“.

 

 

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